Musikfest Berlin 2022_Concertgebouworkest-Amsterdam © Fabian Schellhorn
Eröffnungskonzert vom Concertgebouworkest Amsterdam

Musikfest Berlin 2022: Unterwegs im Kosmos der Musik

von Svetlana Alexeeva

 

Berlin, von 1945 bis 1990 in vier Sektoren geteilt, hat jede Menge fesselnder Geschichten zu bieten. Die Geschichte der Berliner Festwochen begann in der Nachkriegszeit. 1951 lud man die internationale Kunstwelt in die bereits geteilte Stadt West-Berlin ein – zu den Internationalen Filmfestspielen und den Berliner Festwochen. Die heutige Berlinale und das Musikfest Berlin gehen auf diese Tradition zurück.

Das Musikfest, das jährlich im Spätsommer als Auftakt der Konzertsaison von den Berliner Festspielen in Kooperation mit der Stiftung Berliner Philharmoniker veranstaltet wird, ist zweifelsohne ein Highlight des Berliner Kulturlebens. Orchester und Chöre aus Berlin treffen auf erstklassige Ensembles aus Europa, Amerika und Asien, klassische Werke auf Neue und moderne Musik. Das Festivalprogramm dauert etwa 25 Tage und ist alles andere als der Mainstream. Als ein Forum für innovative künstlerische Arbeit will man dem Publikum insbesondere rare und neue Werke präsentieren – und dabei gemeinsame Kulturverbindungen zwischen Ländern und Kontinenten aufzeigen. Das Repertoire 2022 war nicht minder ambitioniert: über 50 Werke von rund 40 Komponisten, die von 33 Orchesterformationen und Solisten des internationalen und Berliner Musiklebens aufgeführt wurden.

Concertgebouworkest Amsterdam: Kosmische Welten

„In der Musikwelt ist man in der kosmischen Welt“. Diese Worte eines Philosophen zitierte Kulturstaatsministerin Claudia Roth beim Eröffnungsempfang, zu dem das Musikfest Berlin und der Botschafter des Königreichs der Niederlande S.E. Ronald van Roeden gemeinsam einluden. Zuvor lieferte im Großen Saal der Philarmonie das Concertgebouworkest Amsterdam unter Klaus Mäkelä eine vom Publikum begeistert aufgenommene Performance. Erst kürzlich gab das 1888 gegründete Orchester eine auf zehn Jahre angelegte Zusammenarbeit mit dem 26-jährigen Mäkelä aus Finnland bekannt.

Glaubhafte Kunst ergibt sich oft aus dem Unerwarteten. Eine scheinbar ungeordnete Menge aus Variablen ergibt plötzlich Sinn, als stoße ein nach der Wahrheit Suchender unverhofft auf Göttliches. Diese Erkenntnis bot sich mit dem Werk der zeitgenössischen finnischen Komponistin Kaija Saariaho, deren Orchester-Triptychon „Orion“ (2002) in tiefste kosmische Nacht und den auf ewig darin festgenagelten mythologischen Jäger ausgreift. Von Anfang an, im „memento mori“, schafft Saariaho, worum es in der wahren Kunst immer geht: um den Tod – und doch um unser aller Leben. Plötzlich breiten sich im Großen Saal der Berliner Philharmonie, diesem Architektur gewordenen Klang, überirdische Kräfte aus, die die Seele weich machen vor Demut. Das surreale Reich kreiert Saariaho mittels Percussion und zart klingender Glocken, zu denen sich nach und nach in den Ultraschallbereich gesteigerte Klaviertöne gesellen. Immer wieder mischen sich beunruhigende Töne in den sonst harmonischen Satz „Winter Sky“ bis plötzlich ein kräftiger Sturm in den Zauberwald dringt. Man hört Pferde wiehern, die Jagd beginnt. Mäkelä führt die Musiker sicher und einfühlsam durch diese bedrohlich-lieblichen Zauberwald- und Traumgespinste.

Die anschließend aufgeführte Gustav Mahlers 6. (Tragische) Symphonie in A-moll (1903-1905) bot unerwartet viele Bezüge zwischen diesem vielleicht persönlichsten Werk Mahlers und Saariahos kosmischem Stück. Immer wieder erklingt im Hintergrund das Hauptmotiv im Horn Solo. Danach führen Tuba und Harfe, abwechselnd mit Fagott und acht Hörnern das Thema zusammen. Die dissonanten, mystischen Bläserklänge gleichen einem Trauermarsch, der letzte Kontrabasston erstickt in einem kurzen resignierten Schlussakkord.

Berliner Philharmoniker_Kirill Petrenko © Bettina Stöß
Chefdirigent Kirill Petrenko inmitten Berliner Philharmoniker

Berliner Philharmoniker: Expressiv-tragischer Maestro Petrenko

Berliner Philharmoniker unter Chefdirigent Kirill Petrenko setzten mit expressiven Werken der Nachkriegs-Moderne ein vielsagendes Zeichen. Das Programm aus Iannis Xenakis‘ „Empreintes“, der konzertanten Aufführung von Luigi Dallapiccolas direkt nach dem Zweiten Weltkrieg komponierten Oper „Il prigioniero“ und Bernd Alois Zimmermanns apokalyptischer „Symphonie in einem Satz“ für Orchester war ausgesprochen anspruchsvoll. Doch was die drei Kompositionen von der Prädisposition her miteinander verband, war die Grundstimmung einer unermesslichen Trauer und Verzweiflung. Klage, Schmerz, Schrei – in Klang, Ton, Gebet verpackt – das ging unter die Haut und war beinahe körperlich spürbar, als wollte uns der stille Maestro Petrenko, von Geburt Russe, im sibirischen Omsk in einer Musikerfamilie aufgewachsen, mitteilen, wie geschockt er von Russlands Krieg in der Ukraine sei. „Es ist auch ein Angriff auf die Kunst, die bekanntlich über alle Grenzen hinaus verbindet. Ich bin zutiefst solidarisch mit all meinen ukrainischen Kolleginnen und Kollegen und kann nur hoffen, dass alle Künstlerinnen und Künstler für Freiheit, Souveränität und gegen die Aggression zusammenstehen werden.“, bekannte sich Petrenko unmittelbar nach Kriegsbeginn am 25. Februar.

Musikfest Berlin 2022_ Cleveland Orchestra_Franz Welser-Möst © Roger Mastroianni_Courtesy of The Cleveland Orchestra
Franz Welser-Möst dirigiert das Cleveland Orchestra (USA)

Franz Welser-Mösts Cleveland Orchestra: Brillante Metamorphosen

Vollendete Brillanz und Perfektion – beim Cleveland Orchestra aus den USA unter Franz Welser-Möst trifft es den Kern. Den aus Österreich stammenden Maestro Möst und das vor über 100 Jahren in Ohio gegründete Orchester, verbindet bereits seit 2002 eine außerordentlich fruchtbare Partnerschaft. Der glanzvolle Auftritt des amerikanischen Spitzenensembles in Berlin fand im Rahmen einer großen, erstmals seit 2018 veranstalteten Europa-Tournee statt. Die ausgewählten Komponisten – Wolfgang Riem, der als der innovativste Komponist der Gegenwart gilt, und Franz Schubert – wirken nur auf den ersten Blick unvereinbar. Riems historische Reminiszenzen „Verwandlung 2“ und „Verwandlung 3“ und Schuberts „Große“ (Romantische) Symphonie in C-dur verbindet das gleiche Thema der Veränderung, einer ständigen Metamorphose, des leisen Flusses der Dinge, der Stimmungen und Naturerscheinungen. Mit höchster Sensibilität, Präzision und Eleganz leitet Möst die Musikspieler fast lakonisch durch das Reich der Klänge. Die dabei entstehende Transparenz ist an Schönheit im Detail perfekt.

Musikfest Berlin 2022_Deutsches Symphonie-Orchester Berlin_Robin Ticciati @ Shauna Summers
Robin Ticciati und Deutsches Symphonie-Orchester Berlin

Dialektisches Miteinander: Deutsches Symphonie-Orchester Berlin

Für das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) unter Robin Ticciati beginnt die neue Spielzeit traditionell mit dem Musikfest Berlin. Dieses Jahr entschied man sich für drei Werke. Während Morton Feldmans Coptic Light (1986) von und Jean Sibelius’ Tondichtung namens Tapiola (1926), benannt nach dem finnischen mythischen König des Waldes, ungemein irisierend, mystisch, beinahe tranceartig klingen, ist Igor Strawinskys Violinkonzert D-Dur (1931) demgegenüber ein radikaler Kontrast. Pointiert, klar, um das dialektische Miteinander von Orchester und Geige mehr bemüht als um einsame Solo-Brillanz. „Virtuosität um ihrer Selbst Willen spielt in meinen Konzert eine geringe Rolle“, ließ der russischstämmige Komponist, der aufgrund seines radikal experimentellen, musikalisch-ästhetisch ausdrucksstarken Kompositionsstils als Solitär der Avantgarde und Neuen Musik gilt, wissen. Der junge Brite Ticciati, der seit 2017 Chefdirigent des DSO ist und Sir Colin Davis sowie Sir Simon Rattle zu seinen Mentoren zählt, gelingt der Auftritt mit Bravour. Eher minimalistisch als ausufernd, aber stets elegant, steuert er das DSO durch den Abend.

BigBand_Deutsche Oper Berlin_Randy Brecker @ Marcus Lieberenz
BigBand der Deutschen Oper Berlin und Randy Brecker (links)

BigBand der Deutschen Oper Berlin mit Hommage an Charles Mingus

Das Abschlusskonzert mit der fabelhaften BigBand der Deutschen Oper Berlin fiel heiter aus. Auf dem Programm stand „Epitaph“ von Charles Mingus, vor dem Pult Titus Engel. Der Große Saal war restlos ausverkauft, denn Mingus‘ Opus magnum wird nur selten aufgeführt. Und anlässlich des 100. Geburtstages des berühmten Jazzkomponisten und Bassisten widmete ihm die BigBand ein besonderes Konzert. Dazu lud man aus den USA den legendären Jazz-Trompeter Randy Brecker, der seit mehr als vier Jahrzehnten den Sound von Jazz, R&B und Rock prägt und mit Künstlern wie James Taylor, Bruce Springsteen, Frank Sinatra, Steely Dan, Jaco Pastorius und Frank Zappa zusammengearbeitet hat.

Das dreistündige Monumentalwerk ist für zwei Bigbands und weitere Orchesterinstrumente konzipiert. Doch seine Ausdruckskraft ergibt sich vielmehr durch miteinander verschmolzene Traditionslinien und Stile – von klassischer Moderne und Dixieland über Swing, Gospel und Bebop bis hin zum Freejazz. Jazzimprovisationen treffen immer wieder auf ausnotierte Passagen, in denen Versatzstücke von Debussy, Ravel und Strawinsky nachhallen. Diese Komplexität hat Titus Engel, der für seine Dirigate zeitgenössischer Projekte 2020 vom Magazin Opernwelt zum Dirigenten des Jahres gekürt wurde, erfolgreich gemeistert. Der lang anhaltende, begeisterte Applaus des Publikums war ein klarer Beweis dafür.

 

Das nächste Musikfest Berlin findet voraussichtlich vom 26. August bis 19. September 2023 statt:

https://www.berlinerfestspiele.de/de/musikfest-berlin/start.html

Kontakt: Svetlana.Alexeeva@digital-insight.de

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