Mit Estland hat die Berliner Sicherheitskonferenz 2024 ein Partnerland und NATO-Mitglied gewonnen, das im gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine durch seine geographische Lage eine exponierte Rolle einnimmt. Über die Sicherheit ihres Landes und die Kulturhauptstadt Tartu 2024 sprach B&D mit Botschafterin Marika Linntam.
Frau Botschafterin, welche Erwartungen knüpft Estland an die Berliner Sicherheitskonferenz 2024 als deren Partnerland und wie wird sich Estland einbringen?
Sicherheit ist die unabdingbare Grundlage für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Die Berliner Sicherheitskonferenz 2024 sehen wir als eine wichtige Gelegenheit, um die Aufmerksamkeit auf die Verteidigung Europas zu lenken und Gespräche über die heutigen und zukünftigen Themen rund um die Sicherheit zu führen. Estland wird darlegen, wie es die heutige Lage und Herausforderungen aus seiner Sicht beurteilt. Die Geopolitik ist zurück, und die auf Regeln basierte Welt ist unter Druck geraten. Wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine steht vieles auf dem Spiel – nämlich die Zukunft der Sicherheitsordnung Europas. Es ist existenziell wichtig, dass die Ukraine seine territoriale Integrität schützen kann und dass Russland seinen letzten imperialistischen Krieg verliert. Aggression als Mittel der Außenpolitik muss diskreditiert werden. Estland freut sich darüber, schon 20 Jahre Mitglied der NATO zu sein. Deutschland ist einer unserer wichtigsten Verbündeten und trägt viel zur Sicherheit im Ostseeraum bei, nämlich durch die Luftraumüberwachung und die Planung für die Stationierung der Brigade in Litauen.
Mit Ausnahme Russland sind alle Ostsee-Anrainerländer NATO-Mitglieder. Erhöht das Estlands Sicherheitsgefühl oder ist eher die Unsicherheit gewachsen, weil sich Russland dadurch herausgefordert sieht?
Die NATO ist eine Verteidigungsunion, es gibt keinen Grund für Russland, sich herausgefordert zu sehen. Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine seit 2014, ist es noch deutlicher geworden, dass wir eine Abschreckungsfähigkeit und natürlich eine Verteidigungsfähigkeit gegen Russland brauchen. In Europa müssen wir ein breiteres Bewusstsein dafür schaffen, dass wir uns dringend mehr um unsere Sicherheit kümmern müssen. Die NATO ist heutzutage wichtiger und lebendiger denn je. Ihre Erweiterung hat Putin mit seinem imperialistischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gegen seinen Willen erreicht. Der Beitritt Finnlands und Schwedens hat die NATO, besonders im Ostseeraum, sehr gestärkt. Auch die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO, das haben alle Verbündeten gemeinsam vereinbart.
Estland ist als hochdigitalisiertes Land sicherlich besonders anfällig für Cyber-Angriffe. Wie schützt sich Estland dagegen?
Estland ist tatsächlich sehr digitalisiert: 99 Prozent der öffentlichen Dienstleistungen sind online verfügbar. Dies ermöglicht, viel Zeit, Geld und auch Nerven zu sparen. Wir haben unseren Cyber-Schutz ganz stark ausgebaut. Schon 2007 gab es heftige Cyber-Angriffe gegen Estland. Wir haben damit also sehr viel Erfahrung. Es geht auch immer darum, ein breiteres Bewusstsein in der Gesellschaft und natürlich bei den Behörden zu schaffen, weil die Cyber-Hygiene von jedermann von Wichtigkeit ist. Zum Beispiel gibt es Cyber-Hygiene-Schulungen. Russland ist in allen seinen hybriden Aktivitäten immer dreister geworden. Er zielt darauf ab, das Sicherheitsgefühl in unseren Gesellschaften zu untergraben. Zu diesen Aktivitäten gehören Cyber-Angriffe sowie Sabotage und Desinformationskampagnen. Wir haben in Estland im Jahr 2023 etwa 60 Prozent mehr DDoS-Angriffe gegen Online-Dienste des öffentlichen Sektors gesehen als 2022. Aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen waren die Auswirkungen meist begrenzt – die Arbeit einer Website oder eines Dienstes wurde kurzzeitig unterbrochen oder verlief langsamer als üblich.
In Deutschland streiten Befürworter und Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine miteinander. Die Meinungen zum Umgang mit Russland sind sehr geteilt: Wie nehmen sie diese Debatte in Estland wahr?
Wir wissen zu schätzen, dass Deutschland an der zweiten Stelle bei der Hilfe für die Ukraine liegt, mit humanitärer Hilfe, mit Hilfe für den stark von russischen Angriffen betroffenen Energiesektor, mit militärischer Hilfe und mit Hilfe für den Wiederaufbau der Ukraine. Das ist alles sehr wichtig.
Wie schätzt man in Estland ein, dass Deutschland erwägt, weniger Finanzmittel für die Verteidigung der Ukraine bereitzustellen?
Es ist wichtig, was Deutschland für die Unterstützung der Ukraine geleistet und versprochen hat, diese Hilfe auch in der Zukunft fortzusetzen. Russland ist und bleibt die größte und unmittelbarste Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit. Es ist existenziell wichtig, dass wir unermüdlich die Ukraine zusammen weiter unterstützen.
Von der Sicherheitspolitik zur Kultur. Tartu ist europäische Kulturhauptstadt 2024. Welche Bilanz können Sie bis jetzt ziehen?
Wir ziehen bisher eine sehr positive Bilanz. Tartu als Kulturhauptstadt Europas 2024 hat ein wunderbares Programm angeboten, mit etwa 1000 Veranstaltungen in Tartu und Süd-Estland. Sie hat damit sehr viele Besucher gezogen, auch aus Deutschland. Ich bin stolz darauf, dass unsere Universitätsstadt Tartu, die auch meine Geburts- und Studienstadt ist, sich als eine so erfolgreiche europäische Kulturhauptstadt erweist.
Interview: Rainer Schubert
Foto: Botschaft von Estland
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